Wer darf an welche Traumata erinnern?
/ Welt am Sonntag

Drei irakische Künstler haben ihre Kunstwerke von der Berlin Biennale abgezogen. Die Arbeiten von Layth Kareem, Raed Mutar und Sajjad Abbas waren im Hamburger Bahnhof ausgestellt, in unmittelbarer Nähe zu einer labyrinthischen Installation von Jean-Jacques Lebel. Der 86jährige französische Künstler und Aktivist zeigt dort sein Werk „Scènes de l’occupation américaine à Bagdad“ von 2013, großformatig aufgezogen die furchtbaren Aufnahmen von Folteropfern mit ihren US-amerikanischen Peinigern im irakischen Gefängnis von Abu Ghraib. Sie wurden zwischen 2004 und 2006 öffentlich und sind längst im Onlinespeicher des Internets für die Nachwelt gesichert. 

 

Eine Triggerwarnung am Eingang weist darauf hin, dass das Werk „negative oder retraumatisierende Reaktionen auslösen“ könne – so kann man vorher entscheiden, ob man sich diese Brutalität antun will. Die Iraker Layth Kareem, Raed Mutar und Sajjad Abbas verstörte die Wiederbegegnung mit dem Grauen, das ihren Landsleuten und Familien angetan wurde – und in einer zum Teil schwer auszuhaltenden Debatte um die Zulässigkeit von Folter endete. Zwei Tage nach der Eröffnung suchten die Künstler das Gespräch mit dem Kurator der Biennale, dem Künstler Kader Attia, dessen Hauptthema die Wunden der Kolonialzeit sind. Attia erklärte, dass Lebels Werk als Mahnmal für Amerikas brutalen Imperialismus gedacht sei und den Betrachtern eine intensive Erfahrung biete – was aus seiner Sicht die Aufgabe von Kunst sei. Die Künstler waren einverstanden. Doch kurz darauf verlangten sie die Verlegung ihrer Werke an andere Ausstellungsorte. Der Kurator kam der Bitte nach. 

 

Dann aber erschien am 29. Juli, also anderthalb Monate später, ein offener Brief in der amerikanischen Kunstzeitschrift „Artforum“, verfasst von der Kuratorin Rijin Sahakian, die als Sprachrohr der drei Künstler sowie der in Berlin lebenden Iraker auftrat. Sie spricht darin von der tiefen Verstörung, die Lebels Werk in ihnen allen ausgelöst habe, von einem „Insistieren auf Unsensibilität und Abwertung gelebter irakischer Erfahrung“. Zudem hieß es, die Künstler hätten um die Verlagerung lange verhandeln müssen.

 

Der konfrontative Ton des Briefes zwang die Berlin Biennale zu einer Stellungnahme. Am 15. August entschuldigte sich die künstlerische Leitung für den Schmerz, den sie ausgelöst habe. Wer Attias Arbeit kennt, müsste eigentlich wissen, dass ihm das Thema Trauma durch Kolonisierung ein persönliches Anliegen ist. Er teilt Erfahrungen von Mord, Folter und Vergewaltigung in seiner eigenen Familiengeschichte in Algerien. 

 

Einen Tag später verkündete Sahakian, dass die drei Künstler ihre Werke abziehen würden. Sie spricht von einer „Instrumentalisierung unserer Arbeit und unserer Identität als Iraker.“ Das Biennale-Team habe Lebels „ausbeuterische, fetischisierende Reproduktion der Gewalt“ legitimiert, die dargestellten Opfer seien nicht nach ihrem Einverständnis gefragt worden, geschweige denn habe man die jungen irakischen Künstler konsultiert, die teils selbst Verwandte in Abu Ghraib hatten. Die Biennale konnte nur noch ihr Bedauern über den Abzug ausdrücken – zu einem Gespräch waren die Künstler nicht bereit.

 

Im Netz tobten die Kritiker und forderten den Abbau von Lebels Werk: Ein alter weißer Mann habe kein Recht, sich fremdes Trauma anzueignen, es zu kommerzialisieren und sich so im Kunstbetrieb ein Renommée zu verschaffen (wobei Lebel vor allem von seinem Ruf lebt, seine Kunst verkauft sich nämlich kaum). Das erinnert an Dana Schutz’ Gemälde des gelynchten Emmett Till auf der Whitney Biennale vor fünf Jahren, mit der die Debatte um „kulturelle Aneignung“ in der Kunst losging – ein Kampfbegriff, der heute bis hin zur Absage von Konzerten führt, weil weiße Sänger Dreadlocks tragen. Denkt man dieses Prinzip zu Ende, müsste man die Platten der Rolling Stones wegschließen, denn ohne den Blues eines Muddy Waters und Howlin‘ Wolf sind sie nicht denkbar, womit im Grunde die gesamte weiße Rock-, Pop- und Jazzmusik, ja die europäische Kultur insgesamt verboten werden müsste. 

 

Lebel stammt aus einer Generation, in der sich Solidarität nicht über Identität definierte. Man marschierte als weißer heterosexueller Mann gegen den Vietnamkrieg und für schwarze Bürger-, Frauen- und Schwulenrechte mit, ohne direkt zu der Gruppe zu gehören, für die man einstand. Hätten solche Leute damals gefehlt, wären nur die Opfer selbst aufmarschiert, wohin hätte das geführt? 

 

Um Wandel zu erzeugen, braucht man Diversität und Dialog statt Abgrenzung und Beschuldigung. Weil Attia das weiß, zeigt er das Werk von Lebel und lässt sich in seiner Überzeugung nicht beirren. Und so geht es jetzt wie so häufig in den Debatten dieser Jahre um viel mehr als nur um Abu Ghraib – nämlich um die zunehmende Unfähigkeit, über Konflikte zu sprechen und die Haltung der Gegenseite akzeptieren.